I.
Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat die die Gültigkeit der Wahlen zum 17. Landtag des Saarlandes beanstandende Wahlprüfungsbeschwerde zweier Wahlberechtigter mit Entscheidung von 04.07.2023 – die Entscheidung ist aus verfassungsprozessrechtlichen Gründen erst jetzt verkündet worden – abgewiesen. Die Wahlberechtigten hatten geltend gemacht, die Wahl zum 17. Landtag des Saarlandes vom 27.3.2022 sei ungültig und zu wiederholen, weil bei der Verteilung der Sitze im Landtag nur solche Wahlvorschläge berücksichtigt worden sind, die mindestens 5 % der Stimmen erhalten haben.
Der Verfassungsgerichtshof hat im Wesentlichen für Recht erkannt, dass die 5 %- Sperrklausel in der Verfassung des Saarlandes und ihre einfachrechtliche Umsetzung im Landtagswahlgesetz unter den gegenwärtigen Verhältnissen verfassungsgemäß ist. Angesichts des Umstands, dass bei den Wahlen zum 17. Landtag des Saarlandes jedoch etwas mehr als 1/5 der abgegebenen gültigen Stimmen keinen Einfluss auf die Sitzverteilung gehabt haben, hat er verlangt, dass sich der Landtag des Saarlandes mit der Fortgeltung der Sperrklausel auseinandersetzt. Eine dauerhafte Nichtberücksichtigung von mehr als einem Fünftel abgegebener Wählerstimmen könne verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen.
II.
Sachverhalt und Entscheidung:
1.
Bei den Landtagswahlen am 27.3.2022 entfielen nach dem amtlichen Wahlergebnis rund 22 % der gültigen Wähler_innenstimmen auf Wahlvorschläge, die an der im Saarland geltenden 5 % Sperrklausel gescheitert waren, so dass diese Wähler_innenstimmen auf die Sitzverteilung im Landtag keinen Einfluss hatten. Die beiden Beschwerdeführer haben – vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses – die Auffassung vertreten, dass auch wenn die 5 % Sperrklausel im Saarland zwischenzeitlich nicht mehr nur einfachrechtlich in § 38 Abs. 1 des Landeswahlgesetzes geregelt, sondern auch in Artikel 66 Abs. 1 Satz 3 der Landesverfassung verankert sei, dies nicht bedeute, dass die Stimmen derjenigen Wähler_innen, die eine an der Sperrhürde gescheiterte Partei gewählt hatten, hätten unberücksichtigt bleiben dürfen. Denn für den Landesgesetzgeber hätten verschiedene Instrumente - z.B. die Einführung einer „Eventualstimme“ - zur Verfügung gestanden, um die im Status quo beobachteten Grundrechtseingriffe weitgehend zu kompensieren. Jedenfalls müsse – da im Saarland die Einführung eines solchen Kompensationsmechanismus geboten sei, um dem Erfordernis der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen hinreichend Rechnung zu tragen - der Verfassungsgerichtshof dem Landesgesetzgeber aufgeben, das Landtagswahlrecht rechtzeitig vor der nächsten Wahl auf einen insoweit verfassungskonformen Stand zu bringen.
2.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Wahlprüfungsbeschwerde zurückgewiesen und insoweit erkannt:
Die 5 % Sperrklausel sei – wie in einigen anderen Bundesländern auch – zwischenzeitlich in der Landesverfassung verankert. Das erlaube dem Verfassungsgerichtshof ihre Überprüfung nur, soweit ihre Regelung gegen identitätsstiftende Grundentscheidungen – also den unverzichtbaren Kernbestand – der saarländischen Verfassung selbst verstoße. Zu diesen identitätsstiftenden Grundentscheidungen gehöre allerdings das Demokratieprinzip und in untrennbarem Zusammenhang damit stehe auch der in der Verfassung selbst verankerte Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der wiederum besage, dass jede Stimme die gleiche Erfolgschance haben müsse.
Der grundsätzlich gleiche Erfolgswert aller Wählerstimmen werde beeinträchtigt, wenn durch eine Sperrklausel eine erhebliche Anzahl von Wählerstimmen keinen Niederschlag in Sitzen im Parlament finde. Die sich daraus ergebende Einschränkung des Grundrechts der Gleichheit der Wahl bedürfe – wie sich bereits aus der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ergebe – der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung werde – grundsätzlich – in der Notwendigkeit gesehen, durch Wahlen ein handlungs- und entscheidungsfähiges Parlament zu bilden. Eine Zersplitterung der Zusammensetzung des Parlaments könne dazu führen, dass die Bildung einer stabilen Landesregierung erheblich erschwert werde und dass kleinere Parteien mit geringerem Stimmenanteil aufgrund ihrer faktischen Macht, zur Bildung einer Koalition beizutragen, ihren Programmen deutlich größeres Gewicht beschaffen könnten, als dies größeren politischen Gruppierungen möglich sei. Wegen der Relevanz der Sperrklausel insbesondere für das Grundrecht der Gleichheit der Wahl habe der Verfassungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung zur einfachrechtlichen Sperrklausel im Landeswahlgesetz dem Landtag des Saarlandes indes aufgegeben, die Rechtfertigung der Sperrklausel regelmäßig zu überprüfen und vor den nächsten Landtagswahlen über deren Fortgeltung zu befinden. Diesem Verfassungsauftrag sei der Landtag bisher jedoch – entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer – in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise nachgekommen.
Mit seiner jetzigen Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof klargestellt, dass sich an diesem Verfassungsauftrag für den Landtag allerdings nichts dadurch geändert habe, dass die 5 % Sperrklausel vom Landesgesetzgeber zwischenzeitlich auch verfassungsrechtlich verankert worden sei. Die entsprechende landesverfassungsrechtliche Norm habe zwar ein besonderes Gewicht, sie sei aber nicht unabänderlich. Das Parlament sei nach wie vor – auch als verfassungsgebender Gesetzgeber – gehalten, die geltende Sperrklausel im Zusammenhang mit den künftigen Landtagswahlen stetig daraufhin zu überprüfen, ob ihre Aufrechterhaltung in der gegenwärtigen Ausgestaltung zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments notwendig sei oder aber aus verfassungsrechtlich überwiegenden Gründen anderes zu gelten habe, was namentlich dann in Betracht gezogen werden müsse, wenn sich absehen lasse, dass infolge der Sperrklausel dauerhaft bei einem ganz erheblichen Teil von Wähler_innenstimmen der Erfolgswert wegfalle und dadurch die Integrationskraft der Wahl beeinträchtigt werde. Das sei jedoch noch nicht festzustellen, da das Ergebnis der Landtagswahl zum 17. Landtag ein insoweit bislang einmaliges Ereignis darstelle und als solches keine Aussagen über künftige Wahlausgänge zulasse, weswegen die geltende verfassungsrechtliche 5 % Sperrklausel und ihre einfachrechtliche Umsetzung derzeit keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegneten.
Eine Verpflichtung des Landesgesetzgebers zur Vornahme von Ergänzungen des derzeitigen Landeswahlrechts, um bei zukünftigen Landtagswahlen einen bestmöglichen Erfolgswert einer jeden gültig abgegebenen Stimme sicherzustellen, hat der Verfassungsgerichtshof verneint. Die von den Beschwerdeführern in diesem Zusammenhang ins Feld geführte Möglichkeit der Einführung einer „Eventualstimme“ – Wahlberechtigte hätten das Recht, für den Fall der Nichtberücksichtigung ihrer Erststimme aufgrund einer Sperrklausel „hilfsweise“ eine andere Partei zu wählen – hat der Verfassungsgerichtshof aus verschiedenen Gründen verworfen. Den Gesetzgeber treffe keine Pflicht, eine solche „Eventualstimme“ zu gestatten. Denn sie führe unweigerlich dazu, dass davon Gebrauch machende Wahlberechtige ihre Stimmen unter Bedingungen (des fehlenden Erfolgswerts ihrer „Erststimme“) stellen würden. Das erlaube das Wahlrecht nicht. Zugleich wäre der „Zählwert“ ihrer Stimmen gerade nicht gleich dem Zählwert der Stimmen all der anderen Wähler.
Die Entscheidung wird in Kürze im Volltext auf der Homepage des Verfassungsgerichtshofs (www.verfassungsgerichtshof-saarland.de) veröffentlicht werden.